29.01.2024

Die Vielschichtigkeit des Vertrauens

„Wir müssen einander mehr vertrauen!“ Dieser Appell begegnet uns oft in Teamcoachings und Konfliktmoderationen. Doch sobald das Wort „müssen“ ins Spiel kommt, sollten wir innehalten und reflektieren: Was sagt dies eigentlich über das Fundament des Vertrauens aus? Dr. Daniela Blickhan erörterte auf dem Kongress für Positive Psychologie in Wien, dass Vertrauen weit mehr ist als eine nette Geste – es ist eine innere Haltung, die essenziell für ein erfülltes Leben ist. Aber wie lässt sich diese Haltung im beruflichen Alltag konkret umsetzen?

Die Vielschichtigkeit des Vertrauens

Vertrauen geht über bloße Erwartungen oder passive Hoffnungen hinaus; es ist vielmehr eine proaktive Einstellung, die uns befähigt, mit Zuversicht zu agieren, Beziehungen aufzubauen und persönliches Wachstum zu erleben. Diese Perspektive findet auch in der Positiven Psychologie Anklang. Schauen wir genauer hin, entdecken wir hinter dem Begriff „Vertrauen“ ein Geflecht aus Erwartungen, Hoffnungen und psychologischen Mechanismen. Lassen Sie uns gemeinsam in die Tiefe dieses komplexen Konstrukts eintauchen und einige Facetten und Definitionen beleuchten.

Definitionen von Vertrauen

Erik H. Erikson, ein renommierter Psychoanalytiker und Entwicklungspsychologe, prägte den Begriff des „Urvertrauens“. In seinem Modell der psychosozialen Entwicklung steht Urvertrauen für das fundamentale Gefühl eines Säuglings, sich auf die Fürsorge seiner Bezugspersonen verlassen zu können – eine Basis, die unser späteres Beziehungsleben maßgeblich prägt.

Niklas Luhmann, ein angesehener Soziologe, betrachtete Vertrauen als einen Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität. Es ermöglicht uns Handlungsfähigkeit in einer Welt voller Unwägbarkeiten und schafft eine Basis für wohlwollende Interaktionen.

Aus psychologischer Sicht definiert Julian Rotter interpersonales Vertrauen als eine generalisierte Erwartung an die Zuverlässigkeit anderer Menschen – sei es bezüglich ihrer Worte oder Versprechen.

Philosophisch kann Vertrauen als moralische Haltung gesehen werden. Denkerinnen wie Annette Baier argumentieren, dass Vertrauen nicht nur eine Frage der Zuverlässigkeit ist, sondern auch des Glaubens an die Integrität und moralische Verantwortung anderer.

Diese unterschiedlichen Blickwinkel verdeutlichen die Bedeutung von Vertrauen in allen Lebensbereichen. Obwohl jede Disziplin ihre eigene Nuance beisteuert – von Kindheitserfahrungen bis hin zu gesellschaftlichen Strukturen – bleibt die zentrale Botschaft unverändert: Ohne Vertrauen wäre unser Miteinander deutlich erschwert. Der Neurowissenschaftler und Psychologe Prof. Dr. Niels Birbaumer hat es wie folgt auf den Punkt gebracht: „Es gibt nichts Mächtigeres als Vertrauen – nichts, was mehr zu Harmonie beiträgt. Fehlt es, so zerfällt jede Familie und Freundschaft, jedes Unternehmen und jeder Staat.“

Vertrauen oder Misstrauen?

Doch wie sieht es in der Realität aus? Oftmals scheint Misstrauen vorzuherrschen. Das Edelman Trust Barometer zeigt seit einigen Jahren auf, dass das Vertrauen der Menschen in die Politik, Wirtschaft und Medien immer weiter abnimmt. Personen aus diesem Bereich wird nachgesagt, andere absichtlich in die Irre führen zu wollen, indem sie Dinge äußern, von denen sie wissen, dass sie entweder falsch oder grob übertrieben sind. Ich persönlich erlebe ebenfalls häufig eher Misstrauen als Vertrauen, das sich insbesondere in anstrengende berufliche Situationen im Team, mit der Führungskraft und mit Mitarbeitenden widerspiegelt. Diese Haltung des Misstrauens führt zu einem anstrengenden Gedankenkarussell, denn in vielen Unternehmen gibt es die Annahme, nicht vertrauen zu können oder zu dürfen, weil dies zum eigenen Verderben führen könnte. Meist frage ich mich, ob allein diese Haltung nicht schon zum Verderben führt …

Transparenz und Kontrolle

Um Vertrauen aufzubauen, wird Transparenz häufig als Schlüssel genannt – ohne Frage ist sie an vielen Stellen nötig, sinnvoll und zielführend. Doch sie ist kein Allheilmittel und birgt zudem die Gefahr, zur totalen Form der Kontrolle auszuarten, was das Vertrauen letztlich obsolet macht. Wenn alles transparent überwacht wird, wo bleibt dann Platz für echtes Vertrauen?

Ohne Vertrauen kein Fortschritt

In einem professionellen Umfeld ist es herausfordernd, ein Klima des Vertrauens zu etablieren – besonders wenn das Misstrauen tief verwurzelt ist. Trotzdem lohnt sich das Streben danach: Denn ohne Vertrauen sind Zusammenarbeit und Fortschritt kaum möglich. Um echtes Vertrauen aufzubauen, gilt es daher in erster Linie die Einstellungen sowie das Handeln kritisch zu hinterfragen: Wie können wir eine Kultur des Vertrauens fördern? Wie bieten wir Transparenz, ohne in totale Kontrolle abzugleiten? Und wie gehen wir konstruktiv mit unseren Zweifeln um? Diese Fragen sind Wegweiser – und eine kleine Einführung in die Praxisarbeit zu Vertrauen, die ich im kommenden Blog näher beleuchte.

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